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Ekin = ½ m × v2 und die Kunst des Eindrucks

«Ekin = ½ m × v2 und die Kunst des Eindrucks»

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«Autsch, das war mein Kopf!» - Die KZI-Fussballmeisterschaft läuft auf Hochtouren. Ich stehe am Rand des Spielfelds und beobachte das Halbfinal. Kaum bin ich einen Moment lang unaufmerksam, knallt mir der Ball mit voller Wucht an den Kopf. Die Wucht, mit der der Ball gegen meinen Kopf prallt, nennt man kinetische Energie. Es gibt dazu auch eine Formel, die besagt, dass die Masse des Balls und seine Geschwindigkeit eine wesentliche Rolle spielen: Je mehr Masse und Geschwindigkeit der Ball hat, desto grösser ist seine Energie, und desto mehr schmerzt’s. Gemäss dem Prinzip der Energieerhaltung muss die Energie des Balls irgendwo hin. So entsteht Deformationsenergie: Ein Zeitlupenfilm des Ballaufschlags gegen meinen Kopf würde zeigen, dass der Ball, bevor er von meinem Kopf abprallt, dort einen deutlichen Eindruck hinterlässt. Von blossem Auge sehe ich den zwar nicht, aber es tut verflixt weh.

In der Physik wird der Begriff «Energie» erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet. Er wurde aus dem Englischen importiert, wo ihn der Physiker Thomas Young 1807 erstmals in die Mechanik einführte. Der Begriff ist aber älter. Er stammt aus der antiken Rhetorik, wo er ebenfalls Wucht zum Ausdruck bringt – allerdings sprachliche Wucht. Aristoteles bezeichnete damit die Kunst, mit wirkungsvollen Stilmitteln etwas durch die Sprache erfahrbar zu machen und dem beschriebenen Sachverhalt Lebhaftigkeit oder eben ‘Eindrücklichkeit’ zu verleihen. Das nannte er energeia (Rhetorik). Das Vermögen von Sprache, beim Publikum einen Eindruck zu hinterlassen, ist nicht ausschliesslich metaphorisch zu verstehen. Denn gemäss Aristoteles ist «die Energie des Geistes die Energie des Lebens»: (ἡ γὰρνοῦ ἐνέργεια ζωή) (Metaphysik 12.1072b 25), also das, was das Leben ausmacht. Entsprechend beschreibt Descartes rund 2000 Jahre später den Mechanismus der Erinnerung mit physischen Eindrücken oder Einkerbungen auf der ‘Wachstafel’ des Geistes.

Das griechische Wort energeia (aus dem Griechischen ἐν – dt. ‚in‘ – und ἔργον – ‚Werk‘, ‚etwas durch Arbeit Geschaffenes‘) bezieht sich auf ein Machen, aus dem Tatsächliches entsteht. Ähnlich bedeutet das Wort für Poesie (aus dem Griechischen ποίησις) ursprünglich nichts anderes als ‚Gemachtes‘ oder ‚Geschaffenes‘.  Dabei geht es Aristoteles um die Realisierung einer Möglichkeit, die er an anderer Stelle mit Bezugnahme auf ein schulisches Umfeld erläutert: Ein Lehrer verändert die Fähigkeit (dynamis) des Schülers, wenn er ihm etwas beibringt, was dieser vorher nicht wusste (Physik). Damit wird ein Potential verwirklicht und gewinnt somit an Wertigkeit. Schule zeigt Wirkung.

Der römische Rhetoriker Cicero übersetzt das griechische Wort energeia mit der lateinischen Wortschöpfung evidentia, einem Begriff, der im juristischen Zusammenhang ein Beweismittel bezeichnet. Das Bedeutungsfeld des Wortes Energie weitet sich also bereits in der Antike aus. Während die antiken Philosophen mit energeia in erster Linie das gesprochene oder geschriebene Wort im Blick hatten – sei es im rhetorischen, poetischen oder juristischen Sinn – dehnt sich die Anwendung des Begriffs in der Renaissance weiter auf die Malerei aus und führt zu einem eifrig befeuerten Wettstreit, genannt paragone (italienisch für ‘Vergleich’).

Die Wortkünstler behaupten von ihrer Kunst, sie sei wegen ihres indirekten, linearen Charakters höherzustufen; das Schaffen von Wahrhaftigkeit sei schwieriger und darum kunstvoller als das Alles-auf-einmal der Malerei. Leonardo da Vinci setzt dem keck entgegen, dass die Umständlichkeit der Sprache diese nie zum Ziel kommen lasse: Während der Maler alles unmittelbar zeige, bleibe der Dichter durstig, hungrig und ermattet zurück («...la tua lingua sarà impedita dalla sete, et il corpo dal sonno e fame, prima chè tu co’ parole dimostri quello, che in un istante il pittore ti dimostra», Libro della pittura, zit. Rosen). Hingegen lobt der Dichter Francesco Petrarca Homer als den grössten Maler der Antike («primo pintor delle memorie antiche», Trionfo della fama, zit. Rosen), weil es ihm eben gelungen sei, Szenen mit Worten unmittelbar lebendig zu gestalten. So male er mit Worten. Eine mit Verve geführte Debatte, in der es auch darum geht, das Wesen der Künste zu charakterisieren und sie allesamt vom Stigma der nichtigen Kopie zu befreien.

Einige Jahrhunderte später straft der Maler René Magritte Leonardos Behauptung Lügen: Seine selbstironische Bildunterschrift «Ceci n’est pas une pipe» negiert die Wahrhaftigkeit der gemalten Tabakpfeife und verweist so auf die Künstlichkeit von Kunst, auf ihr Gemachtsein. Damit betont er auch die Notwendigkeit der Kooperation und Mittäterschaft des Publikums. Der Romantiker Samuel Taylor Coleridge nannte dies «the willing suspension of disbelief»: die Bereitschaft des Lesers, sich auf die Kunst einzulassen und an sie zu glauben, um sich von ihr beflügeln zu lassen. Das Publikum lässt sich von der künstlerischen Energie treffen und setzt diese in Umlauf.

Dies alles scheint weit weg vom Fussball und meinem Kopf, der jetzt nicht nur vom Aufprall des Fussballs, sondern von all den Definitionen brummt. Wo der Aufprall für einen Moment einen Eindruck hinterliess, ist jetzt ein knallroter Fleck. Was für die Energie in der Kunst gilt, gilt auch in der Physik: Energie kann nicht erschaffen oder zerstört werden. Sie kann nur von einer Form in eine andere überführt werden. In ähnlicher Weise wird die Energie des Kunstwerks in seiner Betrachterin freigesetzt.

«Toooooor!» - Unmittelbar vor Spielende entscheidet mein Lieblingsteam das Spiel für sich und steht nun im Final. Ich bin beeindruckt. Doppelt.

Literaturhinweis:
Valeska von Rosen, «Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des ‘Ut-pictura-poesis’ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept», Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 27 (2000): 171-208.