Hotdog mit einer Prise Algebra - ein Vorgeschmack aufs Leben

Oft stelle ich mir unser Leben wie ein unendlich komplexes Venn-Diagramm vor. Wir leben in unserem eigenen kleinen Kreis und für einen Moment schneidet sich dieser mit einem anderen. Die entstehende Schnittmenge existiert nur augenblicklich, bis sie verfällt und wieder neue entstehen. Der Nachbar von links, ein weiterer Fahrgast im Zugabteil, die eigenen Klassenkameraden. Sie alle teilen verschieden grosse Schnittmengen mit mir. So auch bei der Sozialwoche.

Aber was ist die Sozialwoche überhaupt? Sie wird im Herbstsemester der vierten Klasse absolviert und umfasst eine Woche, in der die Schülerinnen und Schüler der KZI einen sozialen oder handwerklichen Betrieb besuchen und dort unentgeltlich arbeiten. Eine Bedingung dabei ist, dass sich dieser in der Region Zürichsee befindet. Die Optionen sind breit: Von Spitälern über Flüchtlingsunterkünfte bis zu Winzern – in den vergangenen Jahren wurden die verschiedensten Betriebe besucht. Dabei erhaschen die Schülerinnen und Schüler jedes Jahr aufs Neue einen Blick in eine mögliche Zukunft.

Denn für eine Woche kollidiert unser Gymnasiumleben mit einem komplett fremden. Wir teilen unser Venn-Diagramm mit den verschiedensten Menschen. Auf Pflegeabteilungen und im Kindergarten werden wir in eine Welt eingeführt und füllen die Schnittmenge mit Gedanken und Erfahrungen mit den dort Arbeitenden. Hier aber greift die Venn-Diagramm-Analogie zu kurz: Denn während in der Mathematik Schnittmengen nach dem Entfernen der gemeinsamen Elemente verschwinden, so bleibt die Sozialwoche in unseren Erinnerungen und Handlungen erhalten. Kurzum – sie prägt uns. Die einen mehr, die anderen weniger; aber ich glaube, alle nehmen etwas daraus mit.

Gerade deshalb ist die Sozialwoche wie ein gemütlicher Spaziergang durch ein IKEA-Warenhaus. Denn wenn wir Schülerinnen und Schüler während eines Notenkonvents nach Spreitenbach fahren, tun wir das nicht nur den Hotdogs wegen. Wir stellen uns für einen Nachmittag vor, wie die Zukunft aussehen könnte. Wir versetzen uns in eine andere Welt hinein, unserer völlig fremd. Wir tun so, als ob wir einen Kleiderschrank mit zum Zimmer farblich abgestimmten Oberteilen hätten und freitagabends in der Küche ein Steak anbrieten. Der ganze Spass am IKEA-Schlendern ist, dass wir ohne Commitment ein anderes Leben ausprobieren können. Und wie wir auch in der IKEA unserer Meinung schnell Luft machen, klar das braune Ledersofa bevorzugen und den Bauhaus-Teppich verwünschen, so tun wir dasselbe mit der Sozialwoche. Wir schlendern durch eine fremde Welt und picken uns das heraus, was uns daran gefällt – ganz ohne Commitment.

Wie es auch in der IKEA die unterschiedlichsten Zimmer gibt, gestaltet sich die Sozialwoche für jede Person anders. Für mich gibt es zwei Arten: solche, die unserem Auge eine komplett neue, fremde Welt eröffnen und solche, die uns auf angenehme Art vertraut sind. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die den Sprung ins kalte Wasser wagen und sich komplett fremden Situationen aussetzen. Dabei gibt es viel zu lernen. Andere Schülerinnen und Schüler wiederum lassen sich in der Zeit zurückversetzen und besuchen zum Beispiel ihre alte Primarschule. Sie wundern sich dann, ob sie wirklich auch so klein waren und ob auch sie Schwierigkeiten damit hatten, «die Giraffe» korrekt zu schreiben. Beide Ansätze haben dieselbe Wirkung: Sie zwingen uns, unser jetziges Leben aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Unser Alltag, den wir oft so selbstverständlich leben, wird einem ganz anderen gegenübergestellt. Plötzlich sind wir froh, dass wir zur Schule dürfen, statt beim Obstbauern um sechs Uhr morgens bereitzustehen.

Wie viel Zeit und Arbeit hinter einer Erdbeere steckt, lernt man nicht durch das Lesen von Theorieseiten. Aber auch anderes praktisches Wissen kann man nur in freier Wildbahn erarbeiten. Das Ziel der Sozialwoche ist es nicht zuletzt auch, den Gymnasiasten und Gymnasiastinnen einen Vorgeschmack auf das Arbeitsleben zu geben und sie auf die Berufswahl und den Bewerbungsprozess vorzubereiten. Dank der Sozialwoche lernen wir, selbstständig auf Betriebe zuzugehen, uns zu bewerben und zu kommunizieren. Bei der Vorbereitung auf die Sozialwoche sind wir grösstenteils auf uns allein gestellt. Da muss man sich auch mal überwinden und den gefürchteten Anruf tätigen. Sich der Welt auszusetzen und selbstständig Entscheidungen zu treffen, ist das, was viele Schülerinnen und Schüler an der Sozialwoche einschüchtert, uns aber letztendlich fordert und wachsen lässt.

Genau das ist Teil der Idee: Sozial sein meint eben auch, sich zu überwinden, um etwas für Andere zu tun. Selbst wenn das heisst, einem Kindergartenkind zum vierten Mal die Schuhe zu binden. Wir tun es, weil auch jemand für uns da war. Es gibt jemanden, der unsere Schuhe geschnürt hat, für uns Äpfel erntet und uns irgendwann im Rollstuhl herumschieben wird. Letztlich basiert eine Gesellschaft genau darauf: Dem gegenseitigen Helfen, einem Geben und Nehmen. Während der Sozialwoche bekommen wir eine ausserordentliche Gelegenheit dazu. Dabei lernen wir nebenbei, die Herausforderungen und Probleme anderer zu schätzen. Wir erweitern sozusagen unseren eigenen Kreis im Venn-Diagramm und machen eine fremde Welt zu einem Teil der unseren. Und jetzt verspreche ich, ist Schluss mit Mathematik – es sei denn, du musst wie ich noch für die vierte Klasse im Kindergarten Glärnisch die Algebra-Hausaufgaben korrigieren.

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