Fremde Welten, neue Einblicke
Nein, es war nicht Unterricht wie gehabt, als die Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen versuchten, fremde Welten aufzuspüren. Doch wie kamen sie dazu? Im Fach Deutsch mussten sie aus ihrer gewohnten Umgebung ausbrechen und eine multimediale (Porträt-)Reportage zum Thema «Fremde Welten» verfassen.
Wo Sekunden über Leben und Tod entscheiden
«Es ist Montagmorgen. Regen prasselt an die Scheiben des alten Trams. Wir drücken den Stoppknopf und steigen aus. Geduckt unter Schirmen und von Tropfen begleitet, erreichen wir den Eingang. Die Schiebetüren zur Notaufnahme öffnen sich zischend. Sie geben den Blick frei auf eine Welt, die den Glücklichen verborgen bleibt. Eine Welt, in der Alltagshelden arbeiten – und die andere nur betreten, wenn das Leben sie dazu zwingt.» Mit diesen Eindrücken führen Celine und Norina in die Welt des Notfalls im Kinderspital Zürich ein. Sie werden einen Vormittag lang von einer Pflegefachfrau durch die Notfallstation geführt und erfahren aus erster Hand, was es braucht, um in dieser stressigen Welt, in der jede Sekunde zählt, nicht den Überblick zu verlieren, und mit welchen medizinischen und emotionalen Herausforderungen das Pflegepersonal tagtäglich zu kämpfen hat.
Wie eine Sekunde über Leben und Tod entscheiden kann, erleben Elodie und Lena in der Dropzone des Flugplatzes Reichenbach im Kandertal hautnah mit. Nachdem ihr Interviewpartner Andy nach seinem Fallschirmsprung gelandet ist, lauschen sie nicht nur haarsträubenden Episoden aus schwindelerregender Höhe, sondern auch der Geschichte eines Menschen, der den Mut hatte, aus seinem gewohnten Alltag auszubrechen und sein Leben einer Leidenschaft zu widmen, die ihm die Welt bedeutet.

Ausgemusterte GEO-Zeitschriften bieten solides Bildmaterial für visuelle Neuschöpfungen.
Ein Leben kennenlernen
Der Zugang zu einer fremden Welt geschieht oft durch einen Reisebegleiter, der einen an die Hand nimmt und in die eigene Welt einführt. Und diese porträtierten Welten der vierten Klassen könnten unterschiedlicher nicht sein. Kanimoli und Luna tauchen dabei in die Welt von Ursula Waser ein, die schweizweit als bekanntes Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen aufgrund ihrer jenischen Herkunft traurige Berühmtheit erlangte.
«Uschi schlägt die Augen auf. Sie weiss nicht, wo sie sich befindet. Sie neigt den Kopf auf die Seite und ihr Blick schweift im Raum umher. Bett, Bett, Bett ... Kind, Kind, Kind ... Ihr Blick bleibt an der Türe hängen, welche nach einer kurzen Zeit geöffnet wird. Eine Frau tritt ein. Ein Habit, das traditionelle Gewand der Nonnen, bedeckt ihren Körper. Auf dem Kopf befindet sich ein Velan, welcher die Haare verbirgt. Die Nonne schreitet in der Mitte des Raums zu den Fenstern hinüber, durch einen Gang aus Betten. […] Uschi schaut halb verschlafen in die Dunkelheit. Trotzdem sind die mehrere Meter hohen Mauern mit den Stacheldrähten darauf, welche sie schon länger in Gefangenschaft halten, zu erkennen.
Es war nicht das erste Mal, dass Uschi an einem Ort wie diesem aufwachte. In einem Heim, das mehr an ein Gefängnis erinnert als an einen Zufluchtsort für Kinder. Schon oft war sie umplatziert worden, hin- und hergeschoben worden. Heim da, Heim dort. Zu dieser Pflegefamilie und zur nächsten. Zurück zur Mutter und wieder weg. Wenn man alles zusammenzählt, dann wurde sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr 50-mal verlegt.»
Ein ganz anderer Einblick bietet sich Tiago und Philip, und zwar der des Instagram-Rappers Dan9. Mit zurückgeklapptem Autositz und übergrossen Felgen sitzen sie in seinem BMW, als sie von der Polizei kontrolliert werden. Sie erfahren von seiner Welt aus Polizeikontrollen, Beats und Online-Bazar, von seiner Vergangenheit mit Drogen und wie er sich in dieser schnell verändernden Welt auch einmal neu erfinden muss.

Mit Bildfragmenten werden Formanalogien gesucht, mit Kontrasten gespielt und eine überzeugende Komposition entwickelt.
Welten, die vielen verborgen bleiben
«Corippo Bivio – die einzige Bushaltestelle weit und breit. Unser Ziel Corippo ist erst in der Ferne zu sehen. Ein 20-minütiger Wandermarsch zum kleinsten Dorf der Schweiz steht uns bevor. […] Der Fluss Verzasca dröhnt durch das ganze Tal, und wir spüren unmittelbar die friedliche Atmosphäre. Es ist anfangs Mai, der Himmel ist bewölkt und grau und wir merken, dass ein stürmisches Gewitter aufzieht. "3 Stunde da ane gfahre für so es Wetter", sagt Yanis leicht genervt. Mit den ersten Regentropfen begeben wir uns auf den steinigen Weg. Der Weg, eine Überraschung für sich, wie das ganze Dorf Corippo. Alte, verwinkelte "Kapelleli" und schon fast antike Steinpyramiden geben uns einen Vorgeschmack darauf, was uns oben erwartet. Unsere anfängliche Enttäuschung verfliegt schnell und wir fühlen uns direkt gefangen – wie in einem alten Film. Nach einem beschwerlichen Weg durch den Verzasca-"Dschungel" erkennen wir eine alte Kirchturmspitze, die über den mächtigen Bäumen herausragt. Das Dorf Corippo enthüllt sich vor unseren Augen.»
Yanis und Marek erfahren bei ihrem Besuch im kleinsten Dorf der Schweiz, wie aus einem Dorf, dem die Einwohner davonliefen, ein «Albergo Diffuso», ein verstreutes Hotel, wurde – für Menschen, die Entschleunigung und Rustikalität suchen. Von verborgenen Welten erfuhren auch Amaya und Romy, die sich mit einem Medium trafen und in die Welt der Auralesungen, Totenkontakte und Geisterwelten eingeführt wurden. Bei Elines und Emilys Interview mit dem bekannten Meeresbiologen und Unterwasserfotografen Thomas Jermann ging es nicht mehr um die Tiefen des Unterbewusstseins, sondern um die Tiefen der atlantischen Küste der Bretagne. Im ausführlichen Gespräch erläuterte er den beiden seine Faszination für die atlantische Unterwasserwelt.
Wie es ist, als Frau im Schweizer Militär Dienst zu leisten, wollen Alessia und Vivien aus erster Hand erfahren. Sie reisen dafür für ein Treffen mit Majorin Rahel Carlimann in die Kaserne:
«Qu'est-que vous faites ici?» Zwei bewaffnete Männer in Militäruniform versperren uns den Weg. Sie müssen aus der Westschweiz kommen, ihres Französischs wegen. Wir antworten auf Deutsch, wir hätten ein Interview. Sie nicken sich kurz zu und lassen uns anschliessend das von Stacheldraht umzäunte Gebiet betreten. Hinter einer Glasscheibe verlangt ein weiterer Soldat, ebenfalls Französisch sprechend, dass wir ihm unsere Identitätsdokumente aushändigen, als Depot. Die Batches an unserer Kleidung haftend, betreten wir die Einfahrt der Kaserne.»
Rahel Carlimann erzählt den beiden, wie sie vom Couch-Potato zur toughen Kämpferin wurde, sodass sie auch nach drei schlaflosen Nächten einen 50-Kilometer-Marsch absolvieren kann, und was sie motiviert, sich für die Schweizer Armee einzusetzen. Doch bei Erzählungen bleibt es nicht: Wenig später klettern Alessia und Vivien in einen Panzer und probieren Splitterschutzwesten aus.
Es gäbe noch viel zu erzählen, was die Schülerinnen und Schüler der Klasse 4b alles im Zuge ihrer Reportage erfahren haben. Von Flüchtlingen, die im Rahmen ihres DaZ-Kurses von ihrer Fluchtgeschichte erzählen, bis hin zu Einblicken in den Alltag des Schweizer Spitzenpolitikers Jon Pult hat die Klasse ungemein viel Spannendes erlebt und in packende Reportagen verpackt, fremde Welten kennengelernt und diese dem Leser bekanntgemacht.

Manchmal müssen bildnerische Absichten verworfen werden, weil überraschende Formen ungeplant zusammenfinden.
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